EMDR-Therapie: Ein strukturierter Ansatz zur Verarbeitung von Traumafolgestörungen
Die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing – Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung) ist ein international anerkanntes und wissenschaftlich fundiertes psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung von Traumafolgestörungen. Ursprünglich von Dr. Francine Shapiro zur Verarbeitung belastender Erinnerungen nach schweren seelischen Traumatisierungen entwickelt, hat sich EMDR als wirksam bei einer Reihe psychischer Beschwerden erwiesen. Ihr Haupteinsatzgebiet ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), aber sie wird auch erfolgreich bei Angststörungen, Depressionen, Phobien, Leistungsblockaden oder chronischen Schmerzen mit psychischem Hintergrund eingesetzt.
Das Kernstück der Methode ist die bilaterale Stimulation. Dabei werden die beiden Gehirnhälften abwechselnd stimuliert, meist durch geführte Augenbewegungen, aber auch durch auditive (z.B. Töne über Kopfhörer) oder taktile Reize (z.B. leichtes Tippen auf Handrücken). Diese Stimulation erfolgt, während sich der Klient oder die Klientin auf belastende Aspekte der traumatischen Erinnerung konzentriert. Es wird angenommen, dass dieser Prozess die natürlichen Verarbeitungsmechanismen des Gehirns anregt und unterstützt, ähnlich den Augenbewegungen im REM-Schlaf, die ebenfalls der Informationsverarbeitung dienen. Ziel ist es, die “eingefrorene” oder fragmentierte traumatische Erinnerung zu “entladen” und in das autobiografische Gedächtnis zu integrieren, sodass sie nicht mehr als überwältigend erlebt wird.
Die EMDR-Therapie folgt einem standardisierten Protokoll, das in acht Phasen unterteilt ist und einen strukturierten, sicheren Rahmen für die Traumaverarbeitung bietet.
Voraussetzungen für eine EMDR-Behandlung
Bevor eine EMDR-Behandlung begonnen werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein:
- Qualifikation des Therapeuten: Die Behandlung darf nur von psychotherapeutisch ausgebildeten Fachpersonen (Ärzte, Psychologen) durchgeführt werden, die eine spezifische, zertifizierte Weiterbildung in EMDR abgeschlossen haben und Erfahrung mit dem jeweiligen Störungsbild besitzen.
- Diagnostik und Indikationsstellung: Eine sorgfältige diagnostische Abklärung ist notwendig, um festzustellen, ob EMDR die geeignete Methode ist. Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) wie schwere Depressionen, dissoziative Störungen oder Suchterkrankungen müssen erkannt und im Behandlungsplan berücksichtigt werden.
- Äußere Sicherheit: Insbesondere bei Traumatisierungen durch interpersonelle Gewalt (z.B. Übergriffe) muss sichergestellt sein, dass kein aktueller Kontakt zur Täterperson besteht und die äußere Lebenssituation des Klienten stabil genug ist.
- Innere Stabilität und Bereitschaft: Die Klientin oder der Klient muss über ausreichende Fähigkeiten zur Selbstregulation verfügen, um die während der Verarbeitung möglicherweise auftretenden intensiven Emotionen aushalten zu können. Eine grundlegende Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den belastenden Erinnerungen ist ebenfalls erforderlich. Die therapeutische Beziehung muss tragfähig und vertrauensvoll sein.
Die acht Phasen der EMDR-Therapie
Phase 1: Anamnese und Behandlungsplanung
In dieser Phase wird die Krankengeschichte (Anamnese) erhoben. Der Therapeut klärt mögliche Kontraindikationen und erfasst die aktuelle Symptomatik sowie die relevanten traumatischen Erfahrungen. Gemeinsam mit dem Klienten werden die Therapieziele festgelegt und die spezifischen Erinnerungen (Zielerinnerungen) identifiziert, die im Laufe der Therapie bearbeitet werden sollen. Oft wird mit den belastendsten Erinnerungen begonnen, die mit den aktuellen Hauptsymptomen in Verbindung stehen.
Phase 2: Vorbereitung und Stabilisierung
Diese Phase dient der Aufklärung über das EMDR-Verfahren und der Vorbereitung auf den Verarbeitungsprozess. Der Therapeut erklärt den Ablauf, bespricht mögliche Reaktionen und vermittelt dem Klienten Stabilisierungstechniken. Diese Techniken (z.B. Übungen zur inneren Distanzierung, sicherer Ort, Atemtechniken, Grounding) sollen dem Klienten helfen, während und zwischen den Sitzungen mit auftretenden Belastungen umzugehen und sich selbst regulieren zu können. Die Stärkung von Ressourcen ist hier zentral. Gegebenenfalls wird eine begleitende medikamentöse Behandlung durch einen Arzt erwogen.
Phase 3: Bewertung und Aktivierung der Zielerinnerung
Die ausgewählte Zielerinnerung wird nun aktiviert. Der Klient identifiziert das belastendste Bild der Erinnerung, die damit verbundene negative Kognition (z.B. “Ich bin hilflos”, “Ich bin schuld”), die gewünschte positive Kognition (z.B. “Ich habe es überstanden”, “Ich bin jetzt sicher”), die Intensität der Emotionen (z.B. Angst, Wut, Trauer) auf einer Skala (Subjective Units of Disturbance, SUD) und die Körperempfindungen, die mit der Erinnerung verbunden sind. Diese Elemente bilden den Ausgangspunkt für die Verarbeitung.
Phase 4: Desensibilisierung und Reprozessierung
Dies ist die Kernphase der Verarbeitung. Der Klient wird gebeten, sich auf das belastendste Bild, die negative Kognition und die Körperempfindungen zu konzentrieren, während der Therapeut die bilaterale Stimulation (meist Augenbewegungen) durchführt. Nach kurzen Sequenzen der Stimulation (“Sets”) fragt der Therapeut nach, was dem Klienten gerade durch den Kopf geht oder was er wahrnimmt (“Was kommt jetzt?”). Der Klient lässt die aufkommenden Assoziationen (Gedanken, Bilder, Gefühle, Körperempfindungen) einfach geschehen. Dieser Prozess wird wiederholt, bis die Belastung durch die Erinnerung (gemessen am SUD-Wert) deutlich gesunken ist, idealerweise auf 0 oder 1. Während dieses Prozesses können intensive Emotionen auftreten, die im sicheren therapeutischen Rahmen gehalten und durchlebt werden können. Das Gehirn verknüpft dabei fragmentierte Erinnerungsteile neu und integriert sie.
Phase 5: Verankerung der positiven Kognition
Sobald die Belastung durch die Erinnerung reduziert ist, wird die zu Beginn formulierte positive Kognition wieder aufgegriffen. Der Klient konzentriert sich auf die ursprüngliche Erinnerung und die positive Kognition, während erneut bilaterale Stimulation (oft langsamer als in Phase 4) angewendet wird. Ziel ist es, die positive Selbstüberzeugung mit der nun weniger belastenden Erinnerung fest zu verknüpfen und ihre Glaubhaftigkeit (gemessen auf der Validity of Cognition, VoC-Skala) zu erhöhen.
Phase 6: Körpertest (Body Scan)
Nachdem die positive Kognition verankert ist, wird der Klient gebeten, die Erinnerung und die positive Kognition im Geist zu halten und den eigenen Körper von Kopf bis Fuß auf verbleibende unangenehme Empfindungen oder Restspannungen zu “scannen”. Werden solche Restsymptome wahrgenommen, können diese durch weitere kurze Sets bilateraler Stimulation bearbeitet werden, bis der Körper sich entspannt und frei von belastenden Empfindungen anfühlt.
Phase 7: Abschluss der Sitzung
Am Ende jeder EMDR-Sitzung erfolgt eine kurze Nachbesprechung. Der Therapeut gibt dem Klienten Hinweise für die Zeit bis zur nächsten Sitzung, da der Verarbeitungsprozess oft noch nachwirkt (z.B. durch Träume, neue Einsichten oder emotionale Reaktionen). Es werden Strategien zur Selbstfürsorge und Selbstberuhigung besprochen und ggf. die erlernten Stabilisierungstechniken reaktiviert. Der Klient wird ermutigt, auftauchende Erfahrungen zu notieren.
Phase 8: Neubewertung zu Beginn der nächsten Sitzung
Die nächste Sitzung beginnt mit einer Überprüfung der Erfahrungen seit der letzten Sitzung. Es wird evaluiert, ob die zuvor bearbeitete Erinnerung weiterhin entlastet ist und ob neue Aspekte oder Erinnerungen aufgetaucht sind. Basierend darauf wird entschieden, ob die Bearbeitung der ursprünglichen Erinnerung fortgesetzt oder eine neue Zielerinnerung ausgewählt wird.
Wirkung und Besonderheiten der EMDR-Therapie
Viele Klienten berichten bereits nach wenigen EMDR-Sitzungen zur Bearbeitung einer spezifischen Erinnerung über eine deutliche Reduktion der Belastung. Die Erinnerungen verlieren ihre emotionale Intensität und aufdrängliche Natur. Kognitive Neubewertungen stellen sich ein, und körperliche Stressreaktionen im Zusammenhang mit der Erinnerung lassen nach.
Dennoch ist EMDR kein Allheilmittel oder eine “Wundertherapie”. Die Anzahl der benötigten Sitzungen hängt stark von der Art und Komplexität der Traumatisierung (z.B. einmaliges Ereignis vs. komplexe Traumatisierung über Jahre), der individuellen Resilienz und Stabilität sowie dem Vorhandensein von Begleiterkrankungen ab.
Die Stärke von EMDR liegt in seinem strukturierten Vorgehen, das auf aktuellen neurobiologischen Modellen der Gedächtnisverarbeitung basiert und gezielt die körpereigenen Selbstheilungsmechanismen zu aktivieren scheint.
Fazit
EMDR ist eine effektive und anerkannte Methode zur Behandlung von Traumafolgestörungen und anderen psychischen Belastungen, die mit unverarbeiteten Erinnerungen zusammenhängen. Durch die Kombination psychotherapeutischer Prinzipien mit der spezifischen Technik der bilateralen Stimulation bietet EMDR einen strukturierten und gleichzeitig flexiblen Rahmen, um belastende Erfahrungen sicher zu konfrontieren, emotional zu verarbeiten und neuronal neu zu integrieren. Ziel ist es, den Klienten zu helfen, die Kontrolle über ihre Erinnerungen zurückzugewinnen und dadurch mehr Lebensqualität, innere Ruhe und psychische Stabilität zu erreichen.