Dissoziative Störungen: Wenn die Psyche sich schützt
Was passiert bei einer dissoziativen Störung?
Dissoziative Störungen sind komplexe psychische Phänomene, bei denen normalerweise zusammenhängende mentale Prozesse – wie Erinnerungen, Sinneswahrnehmungen, Emotionen oder die eigene Identität – voneinander getrennt werden. Sie können sich durch Gedächtnislücken, das Gefühl der Entfremdung von sich selbst oder der Umwelt und sogar durch eine veränderte Körperwahrnehmung äußern.
Diese Zustände treten oft als Reaktion auf schwerwiegende psychische Belastungen oder Traumata auf. Die Psyche nutzt Dissoziation als Schutzmechanismus, um unerträgliche Erfahrungen auszublenden und sich vor Überforderung zu bewahren.
Obwohl milde dissoziative Zustände – wie Tagträumerei oder das „Autopilot-Gefühl“ beim Autofahren – vielen Menschen vertraut sind, nehmen dissoziative Störungen eine extreme Form an und können das tägliche Leben stark beeinträchtigen.
Welche Formen dissoziativer Störungen gibt es?
Dissoziative Störungen sind vielfältig und können sich auf unterschiedliche Weise äußern. Die bekanntesten Störungsbilder sind:
Dissoziative Amnesie
- Teilweiser oder vollständiger Gedächtnisverlust für bestimmte Erlebnisse, meist im Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen.
- Die Betroffenen können sich nicht bewusst erinnern, obwohl keine organische Ursache (wie ein Unfall oder eine Krankheit) vorliegt.
- In einigen Fällen können Erinnerungen nach Wochen oder Monaten wiederkehren.
Dissoziative Fugue
- Eine extreme Form der Amnesie, bei der die Betroffenen ihre Identität vergessen und oft plötzlich an einen anderen Ort fliehen.
- Sie übernehmen manchmal eine neue Identität und erinnern sich nicht an ihr früheres Leben.
- Nach dem Ende der Fugue-Phase kann es zu einem plötzlichen Erinnerungsrückfluss kommen, oft ohne Erinnerung an die Zwischenzeit.
Depersonalisations- und Derealisationssyndrom
- Depersonalisation: Das Gefühl, nicht mit dem eigenen Körper verbunden zu sein oder sich selbst von außen zu beobachten („wie in einem Film“).
- Derealisation: Die Umwelt erscheint unwirklich, wie in einem Traum oder durch eine unsichtbare Scheibe betrachtet.
- Diese Zustände treten oft in stressigen oder angstauslösenden Situationen auf.
Dissoziative Identitätsstörung (früher: Multiple Persönlichkeitsstörung)
- Eine der schwersten Formen dissoziativer Störungen.
- Die Betroffenen entwickeln mehrere Identitäten oder „Persönlichkeiten“, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten übernehmen.
- Jede Identität kann eigene Erinnerungen, Vorlieben und sogar unterschiedliche Handschriften oder Sprachmuster haben.
- Oft besteht eine Verbindung zu schweren frühen Traumatisierungen, etwa durch Missbrauch oder Vernachlässigung.
Warum entstehen dissoziative Störungen?
Die Ursachen dissoziativer Störungen sind nicht vollständig geklärt, doch es gibt einige zentrale Einflussfaktoren:
- Traumatische Erlebnisse und extreme Belastung
- Besonders häufig entwickeln sich dissoziative Symptome nach schweren psychischen Belastungen wie Gewalt, Missbrauch oder Unfällen.
- Dissoziation kann als eine Art „Notfallmechanismus“ dienen, um den emotionalen Schmerz nicht unmittelbar verarbeiten zu müssen.
- Biologische Faktoren
- Studien zeigen, dass Menschen mit dissoziativen Störungen eine veränderte Aktivität in bestimmten Gehirnregionen aufweisen, insbesondere im Bereich des limbischen Systems (das für Emotionen und Erinnerungen zuständig ist).
- Es gibt Hinweise darauf, dass eine genetische Veranlagung das Risiko erhöhen kann.
- Frühe Kindheitserfahrungen
- Besonders in der Kindheit erlebte Traumata können dazu führen, dass die Psyche sich „abspaltet“, um das Unerträgliche auszublenden.
- Kinder, die in einem emotional instabilen Umfeld aufwachsen, entwickeln möglicherweise früh Mechanismen der Dissoziation, um sich zu schützen.
Wie äußern sich dissoziative Störungen im Alltag?
- Soziale Schwierigkeiten:
- Probleme, stabile Beziehungen zu führen
- Gefühl, nicht verstanden oder „anders“ zu sein
- Berufliche Herausforderungen:
- Konzentrationsprobleme, plötzliche Erinnerungslücken
- Schwierigkeiten, Verabredungen oder Arbeitsaufgaben einzuhalten
- Körperliche Symptome:
- Taubheitsgefühle oder das Gefühl, nicht im eigenen Körper zu sein
- Bewegungseinschränkungen ohne organische Ursache
- Unkontrollierbare „Blackouts“:
- Momente, in denen sich Betroffene plötzlich an nichts erinnern
- Gefühl, an einem Ort „aufzuwachen“, ohne zu wissen, wie man dort hingekommen ist
Diagnose: Wie werden dissoziative Störungen erkannt?
Die Diagnosestellung ist oft schwierig, da dissoziative Symptome mit anderen psychischen Erkrankungen (z. B. Angststörungen, Schizophrenie oder posttraumatischen Belastungsstörungen) verwechselt werden können.
Um eine dissoziative Störung zu diagnostizieren, werden meist folgende Methoden verwendet:
- Klinisches Gespräch:
- Detaillierte Anamnese durch einen Psychotherapeuten oder Psychiater
- Untersuchung von Gedächtnislücken oder ungewöhnlichem Erleben
- Spezielle Fragebögen:
- Standardisierte Tests zur Erfassung dissoziativer Symptome (z. B. „Dissociative Experiences Scale“, DES)
- Ausschluss organischer Ursachen:
- Neurologische Untersuchungen zur Abgrenzung von Epilepsie oder Demenz
Behandlungsmöglichkeiten: Wege aus der Dissoziation
Dissoziative Störungen lassen sich oft gut behandeln, wenn sie frühzeitig erkannt werden. Die Therapie orientiert sich häufig an der Behandlung von Traumafolgestörungen.
- Psychotherapie als Kernstück der Behandlung
- Traumatherapie: Ziel ist es, traumatische Erinnerungen zu verarbeiten, ohne dass der Körper erneut in eine Abwehrreaktion geht.
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Hilft, verzerrte Denkmuster zu erkennen und bewusst zu verändern.
- Stabilisierungstechniken: Betroffene lernen, Dissoziationen frühzeitig zu bemerken und sich wieder in der Realität zu verankern (z. B. durch Achtsamkeitsübungen oder das Benennen von Dingen in der Umgebung).
- Medikamentöse Unterstützung
- Es gibt keine spezifischen Medikamente gegen dissoziative Störungen.
- Antidepressiva oder Beruhigungsmittel können eingesetzt werden, um Begleitsymptome wie Angst oder Schlafstörungen zu behandeln.
- Ergänzende Therapieansätze
- Bewegungstherapie: Sport hilft, das Körpergefühl zu verbessern.
- Kunst- oder Musiktherapie: Ausdruck nonverbaler Emotionen kann hilfreich sein.
- Paar- oder Familientherapie: Unterstützt Angehörige im Umgang mit der Erkrankung.
Fazit: Dissoziative Störungen sind ernst, aber behandelbar
- Dissoziative Störungen sind eine Schutzreaktion der Psyche, die sich aus extremen Belastungen entwickelt.
- Sie treten in verschiedenen Formen auf, von Erinnerungslücken bis hin zu Identitätsveränderungen.
- Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, da die Symptome oft mit anderen Erkrankungen verwechselt werden.
- Psychotherapie ist der zentrale Ansatz zur Behandlung und kann helfen, den Alltag wieder zu stabilisieren.
- Wichtig: Dissoziative Störungen sind kein Zeichen von Schwäche – sondern eine Überlebensstrategie der Psyche. Mit der richtigen Unterstützung ist ein selbstbestimmtes Leben wieder möglich.